In den vorherigen Kapiteln meiner Theoriearbeit habe ich darüber geschrieben, dass die Anforderungen unserer Zeit ein Umdenken erfordern (Welt im Wandel) und dass dieser Wandel eine immens große Veränderung darstellt (Agilität als GAU).
Aber wann sind Menschen überhaupt bereit sich zu verändern?
Es gibt einen „günstigen Moment“ für Veränderung. Dieser günstige Moment ist so zu beschreiben, dass der Mensch merkt, dass er mit den bisherigen Herangehensweisen nicht mehr weiterkommt. Man kann auch sagen: Destabilisierung ist die Grundvoraussetzung für Veränderung. Wenn es kein Bewusstsein dafür gibt, warum Veränderung (z.B. in Richtung neue Arbeitsweisen) erforderlich ist, wird man sich auch nicht verändern.
Kann sich denn jeder Mensch beliebig in jede Richtung verändern?
In einem kürzlich besuchten Training zum Graves Value System (GVS) durfte ich lernen, in welche Richtungen Veränderung bei Menschen erfolgen kann. Das GVS ist für mich bisher der stimmigste Ansatz zu diesem Thema, und dazu das Ur-Modell von Spiral Dynamics oder auch von Laloux Reinventing Organizations, weshalb sich ein Exkurs lohnt: „Kurz beschreiben lässt sich das GVS als ein psychologisches Modell über die (Weiter-) Entwicklung von verschiedenen aufeinander aufbauenden Wertesystemen“ (weitere Infos zum GVS findet man zum Beispiel hier). Der wichtigste Aspekt aus dem GVS ist, dass jeder Mensch ein subjektives Bild von der Welt hat (die Welt wirkt auf das Denken und das Denken wiederum wirkt auf die Welt). Das GVS clustert diese „Weltsichten“ in acht Ebenen.
In den heutigen, bisher eher klassisch geprägten Konzernen befinden sich die meisten Mitarbeiter auf den Ebenen Blau/DQ (geprägt durch: Hierarchische Strukturen, Regeln und Gesetze einhalten, Sicherheit), Orange/ER (Leistung, Wachstum, Fortschritt) und Grün/FS (Gemeinschaft, Teamarbeit, Fairness).
Um das GVS zu verstehen, sollten die folgenden Grundregeln beachtet werden:
- Keine Ebene ist besser oder wertvoller als die anderen Ebenen
- Jede Stufe kann wirksam bis disfunktional sein
- Ein Wechsel der Ebenen erfolgt erst, wenn ich feststelle, dass ich mit meinen bisherigen Ansätzen die aktuellen Probleme nicht mehr lösen kann
- Jeder Ebenenwechsel ist ein Paradigmenwechsel
- Es können keine Ebenen übersprungen werden
Kommen wir nun wieder zurück zu unserem Thema: Menschen und Veränderung. Wie bereits erwähnt, ist die Destabilisierung des Systems eine Grundvoraussetzung für Veränderung. Wenn ein solcher Moment der Instabilität hergestellt wurde, kann Veränderung – laut dem GVS – in vier Richtungen erfolgen:
- Horizontal: Man versucht auf der bestehenden Ebene einen funktionaleren Zustand herzustellen, um der Anforderungen Herr zu werden
- Regression: Man flüchtet sich in die „gute, alte Welt“ und geht 1-2 Ebenen vertikal zurück (gerade gut im Amerika unter Trump zu beobachten)
- Revolution: Man harrt so lange in dem instabilen Zustand aus, bis das alte System kollabiert. Der Aufbruch in die neue Welt erfolgt dann aus dem Chaos heraus
- Evolution: Man geht den Wechsel auf die nächste Ebene proaktiv an und durchbricht die vielen Barrieren, die einem während dieses Prozesses begegnen.
Nun kann man natürlich einfach sagen: „Klar, dann wähle ich die Evolution“. Aber ein Ebenenwechsel ist halt auch ein Paradigmenwechsel. Und für einen Paradigmenwechsel braucht es immer Mut und Überzeugung. Vertikale Veränderung im Evolutions-Stil findet erst statt, wenn alle Möglichkeiten der bisherigen Ebene ausgenutzt wurden.
Diese Einsicht war für mich bahnbrechend, da sie dem weit verbreiteten Glauben an unbegrenzte Möglichkeiten beim Wandel hin zu neuen Arbeitswelten widerspricht. Grenzenlose Veränderung ist eine Utopie.
Was bedeutet das für die Einführung neuer Arbeitsweisen?
Nehmen wir also nur mal an, wir befinden uns in einem blauen Unternehmen. Bevor ich den Wechsel auf die nächste (orange) Ebene angehe, muss ich zunächst versuchen, auf der blauen Ebene eine horizontale Veränderung anzustoßen. Im Kontext der neuen Arbeitswelten wäre dies gleichzusetzen mit dem Versuch, in den bestehenden Strukturen schneller und beweglicher zu werden. Das entspricht im Wesentlichen dem Lean-Management-Ansatz. Das ist auch ein Grund dafür, dass so viele Konzerne aktuell versuchen nach SAFe zu arbeiten. SAFe ist eher ein prozessorientierter Lean-Ansatz als ein agiles Framework. Der Grund, warum es auch hierbei viele Probleme gibt, ist, dass die Arbeit in den Teams zumeist nach Scrum und damit agil (eher orange bis grün) durchgeführt wird. Agilität funktioniert in einer blauen Kultur nicht.
Das hat zur Konsequenz, dass man doppelt genau hinschauen sollte, in welchen Bereichen man anfängt agile Arbeitsweisen einzuführen. Zum einen muss der Kontext betrachtet werden (handelt es sich um kompliziertes oder komplexes Umfeld?) und zum anderen die Kultur (befindet man sich eher in einem blauen, orangen oder grünen Umfeld?). Nur wenn beide Indikatoren dafür sprechen wirklich agil arbeiten zu können, sollte man seine Chips auch auf dieses Vorhaben setzen.
Wie verhalten sich Menschen in Veränderungsprozessen?
Aber selbst unter bestens geeigneten Rahmenbedingungen bleibt festzuhalten, dass für neue Arbeitswelten eine Veränderung erforderlich ist. Jetzt gibt es bei uns Menschen aber ganz unterschiedliche Veränderungstypen. Nach Graves gibt es diejenigen die offen sind für Veränderung und sich leicht damit tun sich (auch vertikal) zu verändern. Es gibt aber auch Menschen die verschlossen und fest auf ihrer Ebene verankert sind. Hier kann Veränderung nur horizontal erfolgen. Als dritten Typ gibt es diejenigen die in ihrer aktuellen Situation gefangen sind (durch Hindernisse im selbst oder in der Situation). In diesem Zustand findet Veränderung regressiv oder horizontal statt.
Eine gute Nachricht ist aber, dass den „Gefangenen“ geholfen werden kann. Der Zustand kann sich nämlich verändern, wenn Hindernisse (z.B. die Angst vor Veränderung) überwunden werden und man aktiv daran arbeitet die Resilienz und die Offenheit zu erhöhen. Das passiert durch ein intensives Begleiten der Menschen in ihren Veränderungsprozessen – zum Beispiel durch Coaching.