Bei meinen Trainings zu Agilität beginne ich gerne mit dem Cynefin-Framework von Dave Snowden. Das Modell liefert Anhaltspunkte, welche Herangehensweise in welchem Kontext zielführend ist. Eine wichtige Aussage ist, dass man in einem komplizierten Umfeld weiß wie das Ergebnis aussehen soll und deshalb analysiert, einen Plan erstellt und diesen abarbeitet. Das ist der zentrale Unterschied zu einer komplexen Welt, wo man nicht mehr weiß, welches Ergebnis auch erfolgreich ist und deshalb nicht planen kann. Hier ist es sinnvoll via ausprobieren, wahrnehmen und reagieren vorzugehen. Das ist meines Erachtens die Essenz von Agilität. Es geht darum zu experimentieren und zu lernen.
Nachdem ich das Cynefin-Framework vorgestellt habe, stelle ich stets die Frage, in welchem Umfeld es sinnvoll ist, agil zu arbeiten. Häufig höre ich als Antwort „bei komplizierten & komplexen Themen“ oder gar „Agilität ist in allen Feldern sinnvoll“. Das spiegelt aus meiner Sicht ein weiteres wesentliches Dilemma beim Umgang mit Agilität wieder. Agilität wird als kontextunabhängige Allzweckwaffe gesehen.
Bei Themen, die kompliziert und damit planbar sind, ist es eher nicht sinnvoll agil – via experimentieren und lernen – vorzugehen und Dinge auszuprobieren (und manche wieder zu verwerfen). Das ist schlicht unproduktiv. Das wiederum frustriert dann sowohl die Kunden wie die Mitarbeiter.
Es wäre daher hilfreich, wenn man sich zunächst genau anschaut, ob es wirklich Sinn macht agil vorzugehen. Speziell vor dem Hintergrund, dass eine Umstellung auf agiles Arbeiten zunächst mit einer nicht unwesentlichen Investition verbunden ist. Aber warum ist das so?
Zum Beispiel deshalb, weil ich, wenn ich experimentiere, auch Fehler mache – das liegt in der Natur der Sache. Damit Menschen sich trauen Fehler zu machen, brauchen sie ein Gefühl von psychologischer Sicherheit. Sie brauchen das Vertrauen ihrer Mitmenschen, dass sie nach bestem Wissen und Gewissen agieren. Wenn ich bei jedem Fehler schief angeschaut oder abgekanzelt werde, überlege ich es mir beim nächsten Mal zweimal, ob ich mich traue etwas Neues auszuprobieren und offen über meine Erfahrungen zu sprechen.
Zusätzlich bringt der Aspekt, dass es in einer komplexen Welt keine klassische Planung mehr gibt, viel ungewohnte Unsicherheit mit sich. Und es führt dazu, dass die bewährten Steuerungs- und Kontrollinstrumente nicht mehr greifen. Der Fortschritt sowie die Leistung der Mitarbeiter können nicht mehr nach den gewohnten Maßstäben bewertet werden. Auch hier braucht es wieder Vertrauen – speziell seitens der Führungskraft. Vertrauen in die intrinsische Motivation und die Fähigkeiten der Menschen.
Wenn Experimentieren und Lernen die Essenz von Agilität sind, ist Vertrauen die Grundlage dafür, dass Agilität funktionieren kann.
Nun ist Vertrauen in die Mitarbeiter aber keine klassische Management-Tugend aus dem Industrie-Zeitalter, dem wir gerade entschlüpfen. Im Gegenteil: Im Taylorismus gilt das gute, alte Motto „Vertrauen ist gut. Kontrolle ist besser“. Und das ist bei weitem nicht der einzige Unterschied zwischen den Ausrichtungen des Industrie- und des Wissenszeitalters, wie die nachfolgende, beispielhafte Auflistung zeigen soll:
Industriezeitalter (Taylorismus) vs. Wissenszeitalter (Agilität/New Work)
- Hierarchie & Top-Down Entscheidungen vs. Netzwerke & Selbstorganisation
- Gewinnorientierung/Wachstum vs. Sinnorientierung/Mensch im Mittelpunkt
- Fehler vermeiden vs. Experimentieren & Lernen
- Effizienz (Kostenorientierung) vs. Effektivität (Wertorientierung)
- Standardisierung & Spezialistentum vs. Flexibilität & Generalistentum
- Transaktional (z.B. Wissen ist Macht) vs. Transformal (z.B. Wissen teilen)
- Führung via „Command & Control“ vs. Führung via „Servant Leadership“
Diese Gegenüberstellung wirkt wie die zwei Enden einer Skala. Berücksichtigt man dann noch die Aussage von John Kotter, dass eine Veränderung der Kultur erst durch einen jahrelangen Prozess intensiven Wandels passieren kann, so kann es aus meiner Sicht für eine klassisch geprägte Organisation keinen krasseren Change geben, als den hin zu neuen Arbeitsweisen. Agilität als GAU (Größtmöglich Anzunehmender Umbruch).
Die Art und Weise, wie manche Unternehmen mit dieser Herausforderung umgehen, lässt vermuten, dass die Situation anders beurteilt wird. Ganze Bereiche werden auf Anweisung von oben „zwangsagilisiert“ – unabhängig davon ob es dem Bereich bei seinen Herausforderungen hilft oder nicht. Agilität wird zudem häufig auf die Einführung einer neuen Methodik reduziert. Man agiert so, als ob man eigentlich das gleiche machen will wie bisher, nur halt mit Backlog und Sprints und dafür „schneller, besser, günstiger“. Durch diese Einschätzung erhält der Kulturwandel nicht genug Raum und die betroffenen Menschen werden nicht adäquat begleitet.
Bei Veränderungsprozessen dieses Ausmaßes ist es wichtig, dass die Mitarbeiter intensiv befähigt werden, die neuen Rollen und Verantwortlichkeiten auch wirklich annehmen zu können. Es wäre hilfreich, wenn dieser Prozess sukzessive und intensiv begleitet erfolgt und kein Umbruch von einem Moment auf den anderen vorgenommen wird. Man sollte
sich noch mal die Ausmaße der Veränderung bewusst machen: Bisher existierende äußere Strukturen – die Stabilität gegeben haben – brechen auf einmal weg. Wie im fantastischen Buch „New Work needs Inner Work“ (von Joanna Reidenbach und Bettina Rollow) beschrieben, ist es wichtig, diese fehlenden äußeren Strukturen sukzessive durch neue innere Strukturen zu ersetzen. Das sind Veränderungen, die Zeit und auch Vorbilder brauchen. Vorbilder sind in unseren Organisationen häufig die Führungskräfte.
Es ist ein großer Schritt in Richtung neue Arbeitswelten getan, wenn Führungskräfte erkennen, dass Veränderung zuerst bei ihnen selbst anfängt.